Fast zwei Jahre waren hunderte Boeing 737 Max nach zwei verheerenden Abstürzen gegroundet und auf diversen Flugzeug-Friedhöfen um die Welt geparkt. Jetzt heben die ersten Flieger des Typs wieder ab, auch in Europa. Egal ob bei Tui, Ryanair, Norwegian oder British Airways, die 737 Max wird jedem, der innereuropäisch fliegt, irgendwann über den Weg laufen. Grund genug also mal nachzuforschen: Was hat sich geändert, sind die Jets jetzt sicher, würdet ihr wieder mitfliegen? Flugzeug-Nerd Dustin hat sich ein bisschen mit der Materie befasst…
Bevor wir euch einen möglichst kompakten Überblick über die Geschichte des erfolgreichen Boeing-Typs geben, haben wir aber – erstmals in der Geschichte von drauflos – eine Umfrage zu dem Thema, da wir eure Meinung hierzu ungeheuer spannend finden.
Auf einem Reiseblog will man ja eigentlich nichts von Flugzeugabstürzen lesen, aber im Fall der Boeing 737 Max, in welcher wir alle über kurz oder lang mit ziemlicher Sicherheit wieder Platz nehmen werden, muss man eigentlich zwangsläufig zwei verheerende Abstürze heranziehen, um die Probleme des Fliegers zu verstehen und abschätzen zu können, ob man da überhaupt nochmal mitfliegen will. Wir wollen hier versuchen, euch die Thematik verständlich und nicht zu kompliziert zu umreißen, letztendlich kratzen wir mit diesem Beitrag aber natürlich trotzdem nur an der Oberfläche. Wer tiefer in die Materie vordringen will, findet unzählige gute Beiträge im Netz, das hier soll nur einen groben Überblick liefern. Damit das klappt, müssen wir mit einem Zeitsprung in die Vergangenheit beginnen, denn den Typ Boeing 737 gibt es schon verdammt lange.

So sahen die ersten Flugzeuge vom Typ 737 aus. Zum Erstflug hob die revolutionäre Maschine, die tatsächlich in Zusammenarbeit mit Lufthansa entwickelt wurde, im Jahr 1967 ab. Teilweise basierte die Entwicklung auf der Boeing 727, die bereits 1963 zum ersten Mal flog. Besonders auffällig war, wie tiefgelegt der Kurz- und Mittelstrecken-Jet erschien. So konnten Passagiere auch an kleinen Flughäfen ohne aufwendige Treppensysteme aussteigen. Entsprechend klein mussten die Triebwerke sein, die in der Urversion besonders lang, aber mit geringem Durchmesser aufwarteten.

Mittlerweile hat sich das Aussehen des Jets deutlich geändert. Die 737NG, also die Variante, mit der aktuell die meisten Airlines mit einer 737-Flotte unterwegs sind, wurde 1993 als Reaktion auf den immer erfolgreicheren Airbus A320 vorgestellt und wird seit 1997 produziert. Wie auf dem Bild oben zu sehen, liegt der Jet deutlich höher. Grund dafür sind unter anderem die deutlich gewachsenen Triebwerke, die aufgrund der Größe und einem stark verbesserten Nebenstromverhältnis auch um ein Vielfaches effizienter sind als die langen Turbinen an den ersten Flugzeugen der Reihe. Charakteristisch für die 737-Reihe ist die „Delle“ an der unteren Triebwerk-Seite, für die es tatsächlich nur einen Grund gibt: nämlich damit das deutlich gewachsene Triebwerk noch irgendwie unter die bereits hochgebockte Boeing 737 passt. Soweit so gut.

Eigentlich plante man bei Boeing nach der 737NG keine weitere Variante mehr zu entwickeln, sondern wollte lieber einen komplett neuen Jet mit besseren Voraussetzungen für effizientere, noch größere Triebwerke. Als Konkurrent Airbus aber Mitte der 2000er-Jahre begann, seinen Airbus A320 zu überarbeiten und deutlich effizienter zu machen, geriet Boeing unter Zugzwang. 2010 wurde die Neo-Reihe des europäischen Kassenschlagers vorgestellt und Boeing hatte Airbus zu dem Zeitpunkt nichts entgegen zu setzen. Also verwarf man im Hauptquartier in Seattle die Pläne einer Neuentwicklung und pimpte die 737 ein weiteres mal. Am 30. August 2011 wurde die Boeing 737 Max vorgestellt, eine nochmal effizientere Version des Jets, dessen Ursprünge ins Jahr 1967 (bzw. mit der Boeing 727 sogar noch weiter) zurückgehen.

Das ging natürlich nicht ohne überarbeitete Triebwerke, die noch einmal größer waren als die der NG-Reihe. Da zwischen Flügel und Boden trotz „Delle“ im Triebwerk nicht mehr genug Platz war und man die Maschine auch nicht auf noch höhere Fahrwerke setzen konnte, fiel den Ingenieuren bei Boeing nur eine verbleibende Lösung ein: man setzte die Triebwerke ein Stück weiter nach vorne. Auf dem Bild einer Norwegian 737 Max links ist deutlich zu sehen, dass das Triebwerk fast gar nicht mehr unter dem Flügel sitzt, sondern tatsächlich fast komplett davor.
Das ist die Stelle, an welcher es nun tricky wird. Stärkere Triebwerke, die noch ein Stück weiter vor dem Flügel angebracht sind, bedeuten, dass gerade im Steigflug der Anstellwinkel des Flugzeugs zu groß wird, stark vereinfacht ausgedrückt: durch die Power des Flugzeugs, kann es sein, dass die Maschine zu steil nach oben schießt. Für derartige Flugmanöver sind Passagiermaschinen aber nicht konstruiert, weswegen bei zu steilem Flug nach oben die Gefahr eines sogenannten Strömungsabrisses immer größer wird. Passiert dies, hat das Flugzeug den Auftrieb verloren und trudelt quasi unkontrolliert zu Boden. Ausgebildete Piloten können mit gezielten Steuereingaben zwar einen solchen Strömungsabriss abfangen, gerade in den kritischen Start- und Landephasen ist dies aber aufgrund der geringen Flughöhe schwierig bis unmöglich.
Sehr gute Detail-Erklärungen zum MCAS und der gesamten 737 Max-Problematik gibt es beim Youtube-Kanal AeroNewsGermany:
Boeing hat für dieses Problem das sogenannte MCAS-System in die Max-Reihe eingebaut. Die Abkürzung steht für Maneuvering Characteristics Augmentation System und arbeitet als Software im Hintergrund. Piloten sollten das System gar nicht bemerken. Heute wissen wir: der große Teil der Max-Piloten wusste gar nichts von seiner Existenz, weil Boeing den Umstiegsaufwand für bereits ausgebildete 737-Piloten möglichst niedrig halten wollte. Die Max sollte sich genauso fliegen, wie die älteren 737-Typen und deswegen keine aufwendigen neuen Schulungen erfordern. Zweifellos ein guter Selling-Point für Airlines, aber – wie wir heute wissen – auch ein weiterer Grund, der zu zwei verheerenden Abstürzen führte.
Wenn der sogenannte Angle of Attack-Sensor, der das Flugzeug mit Informationen über den aktuellen Anstellwinkel versorgt, einen zu großen Anstellwinkel misst, greift besagtes MCAS ein und verändert die Trimmung der Maschine. Das führt dazu, dass die Flugzeugnase sich senkt und ein drohender Strömungsabriss verhindert wird. Eigentlich gibt es – auch in der Boeing 737 – immer zwei dieser Sensoren, dass mächtige MCAS griff aber vor dem Grounding immer nur auf einen zurück, was einen großen Widerspruch zur eigentlich immer doppelten oder sogar dreifachen Sicherungen von Systemen in der Luftfahrt darstellt.
Im Fall der 737 Max-Abstürze war einer der Angle of Attack-Sensoren defekt und genau dieser versorgte das MCAS nach dem Start mit fehlerhaften Werten. So war das System immer wieder der Meinung, die Maschine würde zu steil steigen und regelte bei der Trimmung nach. Die Piloten sowohl bei Lion Air-Flug 610, als auch bei Ethiopian Airlines-Flug 302 kämpften also einen aussichtslosen Kampf, je mehr sie die Fluglage korrigierten, desto stärker regelte das MCAS nach und drückte die Passagiermaschinen mit hohem Tempo in fast senkrechter Fluglage in Richtung Boden. Beim Lion-Air-Crash in Indonesien starben 189 Menschen, an Bord der Ethiopian-Maschine waren es 157 Menschen.
Im Zuge der Untersuchungen wurden die Abstürze übrigens am Simulator nachgestellt. Wie die New York Times berichtete, fand man heraus, dass die Abstürze bei korrektem Eingreifen innerhalb der ersten 40 Sekunden nach Eingreifen des MCAS hätten abgewendet werden können. Die Tatsache, dass die 737 Max-Piloten gar nichts von der Existenz des Systems wussten und erstmal im Handbuch nachschauen mussten (im Falle des LionAir-Fluges so geschehen), was überhaupt los war, erklärt deutlich, wieso das „Recovern“ der Maschine quasi unmöglich war. Teilweise scheiterten aber auch Piloten im Simulator an den Szenarien.
Ein sehr gut recherchiertes Video (wenn auch etwas reißerisch in der Headline) zum Thema:
Seit dem Ethiopian-Crash sind mittlerweile fast zwei Jahre vergangen. Seitdem war der Flugzeugtyp, der eigentlich Boeings Kassenschlager ist, weltweit gegroundet, durfte also nicht fliegen und war für Fluggesellschaften überall auf der Welt quasi wertlos. Analysten zufolge könnte das 737-Max-Debakel Boeing insgesamt über 18 Milliarden Dollar kosten. Diese Schätzung stammt noch von vor der Corona-Krise. Ein Jahr später stehen zumindest die Entschädigungssummen fest, die der amerikanische Flugzeugbauer nach Indonesien und Äthiopien zahlen muss: 2,5 Milliarden Dollar. Davon werden 1,77 Milliarden an Lion Air und Ethiopian Airlines, 500 Millionen Dollar an die Hinterbliebenen der Absturzopfer und 235 Millionen Dollar als Strafzahlung ans US-Justizministerium gehen. Den deutlich größeren Schaden hat Boeing letztendlich durch Auftragsstornierungen und Erstattungszahlungen an Airlines, die ihre fest verplanten 737 Max-Jets wegen des Groundings Monate-lang nicht einsetze konnten. Alleine letztere sollen Boeing rund fünf Milliarden Dollar kosten. Der tatsächliche Image-Schaden lässt sich noch gar nicht genau beziffern.

Seit Ende Januar 2021 ist das Ende der 737-Max-Durststrecke vorerst erreicht. Nach der amerikanischen Luftfahrtverwaltung FAA, die durch schwache Prüfungsverfahren bei der Zulassung des Typs in der 737-Max-Krise ebenfalls viel Kritik einstecken musste, gab auch die europäische Behörde EASA grünes Licht für den überarbeiteten Jet. Boeing hatte fast zwei Jahren an der Wiederzulassung gearbeitet, aber was hat sich denn jetzt konkret geändert?
- Das MCAS wird nach ausführlichen Software-Updates nun auf beide verbauten Angle of Attack-Sensoren zurückgreifen. Sobald beide Sensoren unterschiedliche Daten liefern, wird sich das MCAS-System nicht mehr aktivieren. Liefern beide Sensoren Daten, die einen Eingriff des Systems rechtfertigen, greift es trotzdem lediglich einmal ein. Dadurch wird eine verheerende Endlosschleife an Korrekturen wie bei den beiden Abstürzen verhindert.
- Außerdem wird ein Alarm-System ins Cockpit integriert (bisher war das nur optionale Ausstattung, auf die Airlines häufig wegen Zusatzkosten verzichtete), welches die Piloten warnt, wenn die Sensoren unterschiedliche Daten liefern.
- 737-Max-Piloten müssen ein neues Simulator-Training absolvieren, bei denen diverse Situationen im Zusammenhang mit defekten Angle-of-Attack-Sensoren und dem MCAS trainiert werden.
- Zusätzlich wird ein weiterer Fehler bei der Verkabelung des Jets behoben, welcher bei den Untersuchungen als potenzielle Gefahrenquelle entdeckt wurde.
Mit diesen Änderungen, die einen Großteil der entlarvten Probleme der 737-Max beheben, hebt die Maschine nun auch in Europa wieder ab. Aktuell passiert das unter permanenter Aufsicht durch die FAA. Jeder 737-Max-Flug wird „mit Satelliten in Echtzeit erfasst – und penibel nachbereitet“, so ein Aero.de-Artikel über die Überwachung des Krisen-Jets. Konkret bedeutet das: zweimal pro Sekunde sendet jeder der Flieger einen Statusbericht an ein Datencenter in New Jersey, jeder noch so kleine Fehler wird quasi in Echtzeit registriert.
https://platform.twitter.com/widgets.jsTUI fly Belgium is the first airline in Europe to resume passenger flights with the #737MAX. Track the first flight to Malaga at https://t.co/fKipSyMYxc pic.twitter.com/dfESChIRfv
— Flightradar24 (@flightradar24) February 17, 2021
Am 17. Februar 2021 fand mit Tuifly Belgium-Flug TB1011 von Brüssel nach Malaga erstmals wieder ein Linienflug in Europa mit dem Krisen-Jet statt und das war nur der Anfang. Alleine die irische Ryanair erwartet bis zum Sommer 2021 mindestens 24 737 Max 200 (eine spezielle für Billigflieger entwickelte Variante), die dann vermutlich als 737-8200 an die Flughafen-Gates rollen wird, um Kunden nicht zu sehr mit dem „Max“-Schriftzug zu verunsichern. Insgesamt 210 Jets des Typs hat allein der irische Billigflieger bestellt, eine Umpositionierung einer solchen Order auf den Konkurrenten von Airbus ist quasi unmöglich, alleine weil die Orderbücher für den A320 ebenfalls randvoll sind. Die Zukunft der Boeing 737 Max ist also aufgrund mangelnder Alternativen quasi automatisch gesichert.
Ryanair-Chef Michael O’Leary rechnet Berichten zufolge nicht mit größeren Problemen bei den Passagieren wegen dem lange gegroundeten Jet. Wenn pro Flug „ein oder zwei“ Passagiere Bedenken hätten, würden diese kostenfrei auf die nächste Verbindung in einer alten 737 umgebucht. „Die meisten Leute wüssten aber ohnehin nicht, in welchem Flugzeug sie unterwegs seien“, wird O’Leary in einem NTV-Artikel zitiert. Auch US-Airlines wie United wollen besorgte Passagiere gratis auf andere Flüge umbuchen.
Solange die 737 Max noch eine Seltenheit in den Flotten der Airlines ist, mag diese Taktik funktionieren. Umso mehr sie zum neuen Standard auf der Kurzstrecke werden, wird sich das natürlich ändern. Ob man will oder nicht, es wird in den kommenden Jahren schwierig werden, dem Flugzeugtyp komplett aus dem Weg zu gehen, schließlich wurde der Krisenjet von Airlines in der ganzen Welt weit über 4000 mal bestellt und aktuell erst gut 400 mal ausgeliefert. Ob als Billigflug bei Ryanair, beim Pauschalurlaub mit Tui, beim Business-Trip mit British Airways oder beim USA-Urlaub mit United oder American Airlines, die 737 Max wird über kurz oder lang jeder Flugpassagier in den kommenden Jahren von innen zu Gesicht bekommen.
Zusätzlich kommt hinzu, dass viele Airlines lukrative Rabatte beim US-Flugzeugbauer für neue 737 Max-Bestellungen bekommen dürften, schließlich will man die Absätze wieder ankurbeln und sich aus der Krise befreien. So hat erst kürzlich die US-Fluggesellschaft United Airlines ihre Order um 25 weitere Jets aufgestockt. Selbst die Lufthansa hatte während des Groundings Interesse an einer möglichen Bestellung geäußert. Der Jet dürfte also trotz seiner Krise alles andere als ein Ladenhüter werden.

Werden wir wieder mit der Boeing 737 Max fliegen? Mit Sicherheit! Werden wir anfangs dabei ein mulmiges Gefühl haben? Nicht auszuschließen! Gleichzeitig gehen wir aber davon aus, dass die Maschine nach zwei Jahren Grounding und intensiver Ursachenforschung sowie überkritischer Prüfungen sicherer ist als die meisten anderen neuen Flugzeuge. Dazu trägt natürlich auch die aktuelle 24/7-Überwachung jedes Fluges mit, bei der jede Unregelmäßigkeit ans Tageslicht kommen dürfte. Weder Boeing, noch die FAA können sich ein weiteres Debakel erlauben.
Boeing hat zweifellos mit seinem Krisen-Jet gewaltig Vertrauen verspielt hat und eine große Mitschuld an den verheerenden Abstürzen in Indonesien und Äthiopien. Immer wieder liest man im Netz auch von möglichen Pilotenfehlern und anderen Fällen, wo Cockpit-Crews die Fehlfunktion des MCAS aushebeln und sicher mit der 737 Max weiterfliegen konnten. Um das wirklich zu bewerten, fehlt uns hier die Expertise, zweifellos ist nach zwei Jahren Grounding aber klar, dass Boeing mehrere grobe Sicherheitslücken bei der 737-Neuauflage in Kauf genommen hat, um schnell ein konkurrenzfähiges Model zum Airbus A320neo im Petto zu haben. Im Endeffekt sind hier 346 Menschen wegen wirtschaftlicher Interessen gestorben.
Als Passagier wird man in den nächsten Monaten zwar vereinzelte Möglichkeiten haben, dem Flugzeug-Typ aus dem Weg zu gehen und Boeing quasi zu „boykottieren“, auf lange Sicht wird die Taktik aber kaum funktionieren. Die 737 Max wird in Zukunft zu tausenden über den Wolken auf der ganzen Welt unterwegs sein. Wer viel fliegt, wird damit zwangsläufig auch irgendwann in der Maschine Platz nehmen. Letztendlich können wir als Passagiere nur hoffen, dass man aus den verheerenden und vor allem vermeidbaren Fehlern gelernt hat und so etwas nie wieder passieren wird. Es ist nichtsdestotrotz ein Unding, dass es überhaupt so weit kommen musste.
Wenn ihr bis hier hin durchgehalten habt, interessiert uns natürlich auch brennend eure Meinung zu dem Thema! Würdet ihr wieder mit der Boeing 737 Max fliegen? Diskutiert gerne mit uns in den Kommentaren!